Wer vertrieben wurde, weiß Tore zu schätzen: Tore, durch die man hineingehen darf in ein Zuhause, das bleibt, und hinausgehen in die Erfahrung von Weite und Weltwirken. Walldorf, der Zwilling von Mörfelden, heißt nach Vertriebenen, die einst hier Zuflucht fanden: Drei Handvoll französisch sprechender Familien aus dem Piemont, die 1699 zwischen Mörfelden und Frankfurter Flughafen ihr Säckel fallen ließen, vom Landgrafen Ernst Ludwig unter Schutz gestellt. Wegen ihres Glaubens verfolgt, gehetzt, sehnsüchtig nach einem Ankommen hinter Heimattoren, gründeten sie die "Waldenserkolonie am Gundhof", die 1715 in Walldorf umbenannt wurde. Später kamen unfreiwillig 1.700 Fremde, Mädchen und Frauen aus Ungarn, wurden zwischen 1935 und 1944 in Baracken gezwängt, mussten beim nahen Flughafen ausbauen helfen bis zum Umfallen. (...) Nach dem Krieg kamen noch einmal Ströme Vertriebener, plusterten die Dorfeinwohnerzahl zur Stadtgröße auf. Heute ist Walldorf stolz auf 100 friedlich miteinander lebende Nationen.

(...) Ein Tor reckt sich und streckt sich wie nach gesundem Schlaf, eins dehnt sich im Fuß, sucht sicheren Halt, eins steht militärisch stramm. Keines der drei ist mit der Messlatte begradigt, und nur wer genau hinsieht bemerkt, wie sich die Kanten aus dem Lot biegen. Sanfte Bewegung macht jedes zum Unikat, wie die Menschen, die hindurchgehen: Keiner gleicht dem anderen. Jedes Tor ist ein Einzelnes aus Vielen, zusammengesetzt aus verformtem Ziegel, aus der Norm getrieben, vertrieben.

Die kaum wahrnehmbaren Abweichungen und Verformungen, die Widersprüchlichkeit zwischen Norm und Form, sind nicht Zeichen des Trennenden, sondern des Verbindenden: Siegeles Anliegen ist Kommunikation, ist das Aufzeigen von Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu treten (...). Kunst ist für sie der Moment, in dem sich Intellekt und Sinnlichkeit, Konzept und Zufall, handwerkliches Können und materialbedingte Unberechenbarkeit begegnen.
[Text: mit freundlicher Erlaubnis © Anja Trieschmann]

Die Skulpturen von Sigrid Siegele bestehen zumeist aus Ziegel. Deren Formen sollen keine Perfektion erlangen, sondern den Normen widersprechen. Ihre Werke sind im öffentlichen Raum vieler deutscher Städte zu finden. Zudem wurden ihre Werke in zahlreichen Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland ausgestellt. 

Sigrid Siegele erhielt den 1. Preis bei der Ausstellung im Skulpturenpark 2000.

Künstler*in: Sigrid Siegele
Titel: Drei hohe Tore
Entstehung: 2007
Material: Ton, gebrannt

Text und Foto: Andrea Vinson

Standort  Kreisel Okrifteler Strasse/Nordring